Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Kreisverband Lüneburg

Die unmögliche Aufgabe

Wie der Lüneburger Rat seinen Beschluss zum Fahrradstraßenring selbst sabotiert – und was das über Verkehrspolitik in Deutschland verrät

Eine Dokumentation der Ratsdebatte vom 13. November 2025

Ilmenaustraße
Ilmenaustraße © Uwe Wenk

Anderthalb Stunden debattierte der Lüneburger Rat an diesem Novemberabend, die Emotionen kochten hoch, Vorwürfe flogen hin und her. "Ideologie!" rief die eine Seite. "Blockade!" die andere. Am Ende stand ein Beschluss, der ein Problem hat: Er ist nicht umsetzbar. 

Eine Ratsmehrheit aus CDU, SPD und FDP hatte die Verwaltung beauftragt, eine "Fahrradstraße" für die Ilmenaustraße zu planen – aber bitte ohne einen einzigen der 72 Parkplätze zu opfern. Dumm nur: Die Verwaltung hatte in ihrer Vorlage klar dargelegt, dass ein Teil dieser Parkplätze bei einer Neuplanung "aufgrund unzureichenden Raumes nicht mehr gemäß RASt 06, VerwV StVO und EAR 23" umsetzbar ist. Technische Regelwerke. Gesetze. 

"Das ist die Quadratur des Kreises", kommentierte Markus Moßmann, Verkehrsdezernent der Hansestadt Lüneburg, das Ergebnis. Die Verwaltung steht jetzt vor einer unlösbaren Aufgabe. Und 2,6 Millionen Euro Bundesförderung schweben in Gefahr, verloren zu gehen.

Das versprochene Projekt

Es geht um mehr als eine Straße. Es geht um ein Versprechen, das die Stadt sich selbst und ihren Bürgerinnen und Bürgern gegeben hat. 

Rückblende, Sommer 2020: Im Kurpark steht der damalige Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD) vor der Kamera des damaligen LZ-Journalisten und heutigen Bloggers Hans-Herbert Jenckel. "Lüneburg kriegt den Fahrradstadtring im ersten Quartal 2020", hatte Mädge bei der Wandelwoche versprochen. Der Journalist hakt nach. Mädge, etwas in die Defensive gedrängt: "Wir leben in einem Rechtsstaat und es müssen alle Dinge abgewogen werden und das dauert." Aber ja, dieses Jahr noch, das sei das Ziel. 

Fünf Jahre später ist der Ring immer noch nicht fertig. Und die SPD, Mädges Partei, stimmt nun gegen die Fortsetzung dessen, was ihr ehemaliger Oberbürgermeister versprochen hatte. 

Ein Jahr nach diesem Interview, 2021, wurden über 7.300 Lüneburgerinnen und Lüneburger mobilisiert – mehr als zehn Prozent aller Wahlberechtigten. Sie unterschrieben den Radentscheid, forderten unter anderem auch den Fahrradstraßenring. Der Rat stimmte einstimmig zu. Auch CDU, SPD und FDP sagten damals: Ja, das machen wir. 

Jetzt, vier Jahre später, ist aus dem "Ja" ein "Ja, aber" geworden. Und dieses "aber" macht alles zunichte.

Die Debatte: Ein Ring, den keiner versteht

Was in der Ratssitzung besonders auffiel: Viele Ratsmitglieder hatten offenbar nicht verstanden, wofür dieser Ring überhaupt gut sein soll. 

"Ich fahre nicht über die Ilmenaustraße in die Stadt rein", erklärte SPD-Ratsherr Jörg Kohlstedt, "ich fahre über Am Berge. Das ist der richtige Weg." Und dann die entscheidende Frage: "Wer will eigentlich an dieser Innenstadt vorbeifahren? Wer nimmt diesen Kreis?

Es ist, als würde jemand über den Inneren Ring für Autos sagen: "Ich fahre über Am Graalwall direkt ins Zentrum, wozu brauche ich den Ring?" Niemand käme auf diese Idee. Denn jeder versteht: Ein Ring dient nicht dem direkten Weg ins Zentrum, sondern den Tangentialverbindungen drumherum. 

Genau das sollte auch der Fahrradstraßenring leisten. Er soll auch den Radverkehr aus der Fußgängerzone heraushalten. In der darf nur Schrittgeschwindigkeit gefahren werden – was aber niemand einhält. Wer von Ost nach West will, von Nord nach Süd, ohne durch die enge und durch viel Fußverkehr belebte Innenstadt im Schritttempo fahren zu müssen – für den ist der Ring da. So wie der Innere Ring für Kraftfahrzeuge seit Jahrzehnten selbstverständlich ist, ohne dass jemals nach seiner Daseinsberechtigung gefragt wurde. 

Die Asymmetrie ist frappierend: Tangentialverbindungen für Autos? Selbstverständlich. Für den Radverkehr? "Wozu brauchen wir das?"

Der Verkehrsdezernent Markus Moßmann warnte vergeblich vor der Abstimmung: “Insofern kann ich nur sagen, wenn Sie das beschließen, dann mögen Sie das tun. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen, aber es wird an der Stelle nicht funktionieren.

Das Parkplatz-Paradox

Besonders pikant: Der Beschluss hilft nicht einmal denen, deren Interessen die Ratsmehrheit zu vertreten vorgibt – den Anwohnern.

Die Zahlen sind eindeutig: 100 Bewohnerparkausweise hat die Stadt in der Bewohnerparkzone C (Wasserviertel) ausgegeben. In der Ilmenaustraße gibt es aktuell 72 Parkplätze, auf dem öffentlichen Parkplatz in der Reichenbachstraße 45. Diese Plätze sind nicht für Anwohner reserviert, sondern stehen parallel auch dem bewirtschafteten Parken zur Verfügung. Anwohner konkurrieren also mit Kurzzeitparkern um die knappen Plätze – und ziehen dabei häufig den Kürzeren.

Eine Fahrradstraße Ilmenaustraße mit 39 Parkplätzen, die exklusiv für Anwohner reserviert wären, hätte deren Situation deutlich verbessert. Erstmals hätten sie Parkplatzsicherheit. Stattdessen bleibt alles beim Alten:
die unbefriedigte Parkplatzsuche, die Konkurrenzsituation. 

Warum? Die Antwort steht in den Wortbeiträgen der Ratsmehrheit: 100.000 Euro Parkgebühren würden wegfallen. Parkgebühreinnahmen, nicht Anwohnerbedürfnisse, haben offenbar Priorität. Wobei es sich bei den  100.000 Euro um Bruttoeinnahmen handelt. Von diesen dürften realistisch nur etwa 50.000 - 65.000 Euro Nettoertrag übrig bleiben. Ca. 35 - 50% der Bruttoeinnahmen gehen an Betriebskosten drauf.

Ideologie? Eine Begriffsklärung

"Ideologie!" – dieser Vorwurf zog sich durch die Debatte wie ein roter Faden. Gemeint waren die GRÜNEN und die LINKEN, die eine Fahrradstraße forderten, bei der alle Parkplätze entfallen sollten.

CDU-Ratsherr Wolfgang Goralczyk brachte es auf den Punkt: "Null Parkplätze, eine Verbannung des Automobils aus der Innenstadt – das ist Ideologie, falsche Ideologie.

Moment. Schauen wir uns an, was eigentlich gefordert wurde: 

Die Verwaltung hatte vorgeschlagen: Mischparken, 12 bis 13 Parkplätze müssen entfallen, weil sie sich nach den technischen Regelwerken RASt 06, VerwV StVO und EAR 23 nicht mehr umsetzen lassen. Keine politische Forderung. Technische Standards. Gesetze. 

Die Grünen und Linken forderten: Vollständiger Parkplatzentfall, dafür eine Fahrradstraße nach AGFS-Leitfaden. Auch das: technische Standards, Förderbedingungen, regelkonforme Umsetzung. 

Die Ratsmehrheit aus CDU, SPD und FDP forderte: Null Parkplätze dürfen entfallen. Koste es, was es wolle. Technische Standards? Egal. Förderbedingungen? Egal. Gesetze? "Machen wir trotzdem." 

Tatsache ist: Niemand hat die Zufahrt zum Karstadt-Parkhaus über die Ilmenaustraße in Frage gestellt. Niemand hat die Zufahrt zum Parkhaus Stadtmitte am Wasserturm in Frage gestellt. Beide wären auch nach Fertigstellung des Fahrradstraßenrings mit dem Kfz zu erreichen.

Wer hier Ideologie über Fakten stellt, liegt auf der Hand.

Die 2,6-Millionen-Frage

Damit sind wir beim größten Problem des Ratsbeschlusses: dem Geld. 

Der Fahrradstraßenring ist kein kommunales Prestigeprojekt, finanziert aus der klammen Stadtkasse. Er wird zu 90 Prozent der förderfähigen Kosten vom Bund aus dem Programm "Klimaschutz durch Radverkehr" gefördert. 2,6 Millionen Euro. Geld, das Lüneburg dringend braucht, wie die Ratsmehrheit selbst betont – „schließlich macht die Stadt jedes Jahr 50 Millionen Miese.“ O-Ton Jens-Peter Schulz (SPD).

In seiner Sitzung am 19. Dezember 2024 hat der Rat der Hansestadt dem Etat für die Jahre 2025 und 2026 zugestimmt. 28 Ratsmitglieder stimmten bei 14 Gegenstimmen und einer Enthaltung für den Doppelhaushalt. Enthalten sind im beschlossenen Haushalt für 2025 Investitionen für den Fahrradstraßenring in Höhe von 720.500, für 2026 in Höhe von 1.457.900 €. Die Verwaltung hat es geschafft diese bewilligten 2.178.400 € Ausgaben durch das Einwerben von Fördermitteln fast um drei Viertel auf 600.000 € Eigenmittel zu verringern.

Aber: Fördergelder bekommt man nicht geschenkt. Sie sind an Bedingungen geknüpft. Technische Standards müssen eingehalten, Regelwerke und Förderbedingungen beachtet werden. Genau das, was der Ratsbeschluss nun zu unterlaufen versucht.

"Ziel des Förderaufrufes ist es, modellhafte investive Projekte zur Stärkung des Radverkehrs zu ermöglichen. Es sollen Anreize zum Umstieg vom motorisierten Individualverkehr aufs Fahrrad geschaffen werden, die zur Senkung der Treibhausgasemissionen beitragen." (Bundesministerium für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit - Förderprogramm „Klimaschutz durch Radverkehr“)

Was passiert, wenn das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz feststellt, dass Lüneburg eine "Fahrradstraße" baut, die gar keine ist? Wenn Querparkstände eingeplant werden, obwohl der AGFS-Leitfaden das ausschließt? Wenn Anreize zum Umstieg vom motorisierten Individualverkehr aufs Fahrrad und die dadurch bewirkte Senkung der Treibhausgasemissionen politisch gar nicht gewollt sind? 

Im schlimmsten Fall: Förderung weg. Im besten Fall: langwierige Prüfung, Verzögerungen, Nachbesserungen. Beides wäre fatal.

Niemand von CDU, SPD oder FDP hat in der Ratsdebatte über dieses Risiko gesprochen. Als interessiere der mögliche Verlust der Förderung von 2,6 Millionen nicht. Sollte dieser Fall eintreten, sind einige der jetzt beschließenden Ratsmitglieder nicht mehr im Rat. Am 13. September 2026 sind Kommunalwahlen in Niedersachsen.

Und daran, wie hoch in Zukunft die Chancen seien werden, erneut Fördermittel für Lüneburg einzuwerben, denkt man lieber gar nicht…

Verfasser: Uwe Wenk

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Querparken in der Ilmenaustraße (Uferseite)

Querparken in der Ilmenaustraße (Uferseite)

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Querparken in der Ilmenaustraße (Fahrbahnseite)

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https://lueneburg.adfc.de/neuigkeit/die-unmoegliche-aufgabe

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